09.11.2021
Beim Podium des Interkantonalen Zivilschutz-Treffs 2021 diskutierten drei Nationalrätinnen, ein Ständerat und ein Regierungsrat über die Zukunft der Dienstpflicht. Das Impulsreferat hielt Korpskommandant Thomas Süssli, Chef der Armee.
Glaubt man den Vertreterinnen und Vertretern aus Armee und Zivilschutzkreisen – und sie stützen sich für ihre Aussagen auf verlässliche Daten – dann sind die Soll-Bestände von Armee und Zivilschutz mittelfristig gefährdet. Oder schärfer formuliert: bleibt alles wie es ist, dann können Armee und Zivilschutz ihre Aufgaben bald nicht mehr wahrnehmen, weil sie zu wenig Personal haben. Wie ein erster Teilbericht zum Thema zeigt, ist der Zivilschutz schon heute strukturell unteralimentiert, die Armee wird es spätestens in einem Jahrzehnt ebenfalls sein.
Vor dem Hintergrund solcher Feststellungen überrascht es nicht, wenn im Bundesparlament eine Reform des heutigen Dienstpflichtsystems gefordert wird. So erklärte die FDP-Liberale Fraktion unlängst in einer Motion, dass das heutige Dienstpflichtsystem für Armee, Zivilschutz und Zivildienst zu überdenken sei. Von der Einführung eines allgemeinen und zeitgemässen Bürgerinnen- und Bürgerdienstes ist in Bundesbern seither ebenso die Rede wie von einer Dienstpflicht für Frauen.
Der Bundesrat möchte zu diesen Fragen aktuell aber noch keine Stellung beziehen. Er möchte zuerst die Ergebnisse des zweiten Teilberichts abwarten, der nicht nur von kurz- und mittelfristigen Massnahmen spricht, sondern die verschiedenen Varianten der längerfristigen Weiterentwicklung des Dienstpflichtsystems beurteilt. Den genannten Bericht hatte der Bundesrat im Sommer 2017 in Auftrag gegeben. Er beauftragte damals das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) die Alimentierungssituation von Armee und Zivilschutz zu analysieren und allfällige Lösungsvorschläge zu erarbeiten – sowohl innerhalb wie auch ausserhalb des heutigen Dienstpflichtsystems. Der Berichtsteil, der sich zur längerfristigen Entwicklung äussert, soll Ende 2021 vorliegen.
Mit ihrem Podiumsgespräch zum Thema «Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht in der Schweiz» brachten die organisierenden Verbände des Interkantonalen Zivilschutz-Treffs 2021 – das waren der Aargauische Zivilschutzverband (AZSV), der Verband Zivilschutzkader Ostschweiz und die Zivilschutzkommandanten Kanton Zürich – ein brandaktuelles Dossier aufs Tapet. Bevor beim von Maurice Velati moderierten Podium SP Nationalrätin Priska Seiler-Graf (ZH) und Grüne Nationalrätin Irène Kälin (AG) mit SVP-Regierungsrat Jean-Pierre Gallati, FDP-Ständerat Thierry Burkart (AG) und FDP-Nationalrätin Maja Riniker (AG), die Klingen kreuzten, hielt Armeechef Thomas Süssli ein Impulsreferat.
Es ist bekannt: Die Armee bezieht zu Dossiers wie dem genannten in der Regel nicht politisch Stellung, äussert sich aber gern zur Ist-Situation und zu ihren Bildern der (heutigen und künftigen) Welt. So gab Korpskommandant Thomas Süssli am Mittwochabend keine Empfehlung zur Reform der Dienstpflicht ab, liess die versammelten Zivilschutzkader aber teilhaben an seinem «big picture». Er äussert sich zur weltweiten Entwicklung, zur Bedrohungslage 2030 und zum Milizsystem. Er sprach von einer VUCA-Welt, die zunehmend geprägt sei von – Englisch gesprochen – volatility (V), uncertainty (U), complexity (C) und ambiguity (A). Der Gegner werde, so der Armeechef, wenn, dann auf Distanz wirken, gut vernetzt und in allen Sphären auftreten, dies meist unerkannt und abstreitbar. Wenn es zum Einsatz von Bodentruppen käme, dann in Zukunft auch in der Stadt.
KKdt Süssli strich im Rahmen seines rund 35-minütigen Vortrags hervor, dass die Schweiz nicht zufällig geworden sei, was ist sie heute ist und dass auch in Zukunft nicht einfach gegeben sei, wie sich die Schweiz entwickeln werde. Süssli verwies auf vier globale Bewegungen, durch die die Mehrheit der Gesellschaften derzeit tangiert seien und die exponentiell fortschritten – gemeint waren Urbanisierung, demografische Überalterung, Klimawandel und die 4. Industrielle Revolution. Im Anschluss äusserte er sich zu einigen Herausforderungen (und möglichen Bedrohungen) im Jahr 2030. Migrationsbewegungen, Pandemien, Umwelt und Infrastrukturkatastrophen waren Stichworte, die fielen. «Wenn wir in der Schweiz drei Tage keinen Strom mehr haben, dann brauchen wir keinen Gegner mehr», so Thomas Süssli.
Der Chef der Armee riet, rechtzeitig dafür zu sorgen, dass die langfristige Sicherheit gewährleistet bleibt. Als zentral für die nächsten Jahre erachtet Korpskommandant Süssli, dass der Wert der Miliz wieder gestärkt wird, dies auch mit Blick auf die Alimentierung der Armee. Er betonte, dass Armee und Zivilschutz kein Selbstzweck seien. Die 72 000 Zivilschutzangehörigen und die 100 000 Armeeangehörigen seien im Ernstfall die letzte Reserve der Schweiz. Allein in der Armee fielen jedes Jahr 3000 bis 4000 zu viel aus dem Bestand. «Wenn wir der Miliz nicht Sorge tragen, dann haben wir 2030 keine Zivilschützer und keine Armee mehr und verlieren damit die letzte Sicherheitsreserve.»
Die an die Ausführungen von Süssli anschliessende Podiumsdiskussion verdeutlichte, dass die Politik das Problem zwar erkannt hat, den Zustand aber nicht in allen politischen Lagern für so bedrohlich hält, dass sofort gehandelt werden müsste. Insbesondere zur Alimentierung der Armee gingen die Meinungen auseinander. Als die dringender zu bearbeitende Baustelle wurde der Zivilschutz erachtet. Während sich Maja Riniker, die auch oberste Schweizer Zivilschützerin ist, für einen Katastrophenschutz plädierte, in den neu sowohl Zivildienst wie Zivilschutz integriert wären, hielt Priska Seiler-Graf nichts davon, dass immer der Zivildienst herhalten müsse, wenn die Bestände an anderen Orten sänken. Jean-Pierre Gallati ortete den Grund für die personellen Probleme der Zivilschutzorganisationen in der Gesetzesänderung zur Verkürzung der Dienstpflicht und erklärte, dass man im Kanton Aargau nun mit einem obligatorischen Informationstag und einer Reform des Gesetzes über den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz Gegensteuer zu geben suche. Ständerat Thierry Burkart forderte, dass man das Büsi halt auch mal Katze nennen müsse und hielt fest, dass die heutigen Bestandesprobleme bei Armee und Zivilschutz eine Folge davon seien, dass der Bevölkerung ihre eigene Sicherheit immer weniger Wert sei, finanziell gesprochen. Der Anteil des Bundesbudgets der für Sicherheit ausgegeben werde, nehme laufend ab.
Die Runde diskutierte intensiv auch die Frage eines Bürgerinnen- und Bürgerdienstes respektive eine Dienstpflicht für Frauen. Interessant war: Alle auf dem Podium waren sich einig, dass eine solche Vorlage beim Volk aktuell keine Chance hätte, sprachen sich auf die eine oder andere Art aber doch klar für eine allgemeine Dienstpflicht aus. Irène Kälin wäre ebenso für eine Dienstpflicht für Frauen zu haben wie Thierry Burkart. Bei Kälin aber müsste es ein breit gefasster, hierarchieloser Bürgerinnendienst sein, für den noch zu diskutieren wäre, was alles als Dienst gilt. Burkart hält eine Hierarchisierung für unabdingbar, schliesslich werde mit der Armee und dem Zivilschutz die Sicherheit des Landes geschützt. Priska Seiler-Graf tat sich zwar schwer mit dem Gedanken, gleiche Pflichten für alle aufzubauen, bevor gleiche Rechte für alle Realität seien, gestand schlussendlich aber ein, dass ihr die Idee, dass alle in irgendeiner Form einen Dienst leisten müssen, nicht unsympathisch sei.
Präsident des AZSV "Romuald Brem" eröffnet die Podiumsdiskussion.
Armeechef Thomas Süssli präsentiert in Endingen seine Sicht auf die Welt.